Ganzeitlichkeit und Entwicklung - Interviewreihe mit Friedrich Glasl Teil 2: Quellen und Inspirationen meiner Entwicklungsarbeit

Prof. Dr. Dr. h.c.  Friedrich Glasl, der am 21. Mai 2021 80 Jahre alt geworden ist, engagiert sich seit seinen Jugendjahren für den Frieden. Im Rahmen der Interviewreihe, die wir in 4 Sequenzen veröffentlichen, erzählt er in Teil 2, «Quellen und Inspirationen meiner Entwicklungsarbeit», wie früheste Kindheitserlebnisse am Ende des zweiten Weltkrieges und seine Jugendjahre im Nachkriegsösterreich seinen unbedingten Willen geprägt haben zu verstehen, wie es zu den Schrecken des Nationalsozialismus und des Krieges kommen konnte, und wie es gelingen könnte, solche Gräuel in der Zukunft zu verhindern und eine friedvollere Entwicklung von Menschen und Gesellschaft zu gestalten.

Den Menschen im System und das System im Menschen friedensförderlich entwickeln

Im Interview berichtet Fritz Glasl, dass er noch lebendige Erinnerungen an die letzten Jahre des zweiten Weltkriegs hat mit den Bombardements und der damit zusammenhängenden Gefahren, und wie die Auseinandersetzungen mit dem Lebenspartner seiner Mutter, der ein – wie er sagt – «unverbesserlicher Nazi war», sein politisches Interesse und Engagement für Frieden und eine gerechte Gesellschaft gestärkt und geschärft haben. Er berichtet, wie er immer mehr und deutlicher zur Überzeugung kam, dass es unbedingt notwendig sei, in der Entwicklungsarbeit den Menschen und das ihn umgebende System in den Fokus zu nehmen – «den Menschen im System und das System im Menschen», wie er es im Interview bezeichnet. Diese schon sehr frühe systemische Haltung hat dann auch seine Arbeit in der Organisationsentwicklung und in der Konflikt- und Friedensarbeit ganz entscheidend geprägt. Strukturelle und kulturelle Gewalt anzuprangern und zu verändern, wurde immer mehr sein Antrieb. Er gehörte in Österreich zu den ersten Wehrdienstverweigerern und studierte nach seiner Schriftsetzerlehre Politikwissenschaften, Psychologie und Philosophie und dissertierte zum Thema der internationalen Konfliktverhütung. Als der dann 1967 ans NPI in den Niederlanden kam, hat er schon früh in seinem Berufsleben als Konfliktvermittler auch in politischen Konflikten (z. B. bei Studentenunruhen in den 1968er-Jahren oder zwischen zerstrittenen politischen Parteien) gewirkt, und er ist schon in den 1970er-Jahren nach Südafrika gereist, um den gewaltfreien Widerstand gegen das Apartheidsregime zu unterstützen. Sein Engagement führte ihn im Laufe der Jahrzehnte auch nach Nordirland, Sri Lanka, Ex-Jugoslawien, Georgien und an viele weitere Kriegs- oder Nachkriegsschauplätze, an denen er sich – unter anderem im Auftrag der OSZE – für Frieden und Versöhnung einsetzte. Auch in Armenien ist er schon lange und noch heute aktiv, ebenso wie in der Ukraine.

Wahrhaftigkeit und Vorbild

Ich habe in den 22 Jahren, seit ich Fritz kenne, auch im kleineren Rahmen oft erlebt, wie er konsequent und wahrhaftig bemüht ist, die Entwicklung von Menschen und Systemen in diesem Sinne zu unterstützen. Schon in meiner Ausbildung in Organisationsentwicklung bei ihm war ich sehr beeindruckt, wie er mit Konflikten umging, vor allem wenn er selbst involviert war. Der Lehrgang war ja nicht nur eine Weiterbildung, sondern ein gemeinsamer Entwicklungsprozess, in den sich nicht nur die Teilnehmenden eingebracht hatten, sondern durchaus auch die Leitung und insbesondere Fritz. So gab es manchmal in der Gruppe Kontroversen, die dann gemeinsam reflektiert wurden. Ich erinnere mich dabei an eine abendliche Reflexionsrunde, in der Fritz sich über das Verhalten einiger Gruppenmitglieder – darunter auch ich – geärgert und dies offen und mit klaren Worten angesprochen hatte. Ich war als damals junger Mann, der in Fritz in vielerlei Hinsicht ein Vorbild sah, gekränkt, fühlte mich missverstanden und tat das auch kund. Fritz hörte sich meine Reaktionen und die von anderen Gruppenmitgliedern sorgfältig an und liess sie wahrhaftig auf sich wirken und an sich herankommen. Meine Achtung vor ihm stieg umso mehr, als er vor der Gruppe einräumte, dass seine Sicht halt auch nur eine Perspektive und er dankbar sei, auch unsere Sichtweise gehört und ein vollständigeres Bild bekommen zu haben. Dann bot er mir und anderen seine Hand zum Friedensgruss an. Als berühmter Konfliktforscher und Leiter unseres Lehrganges hatte er ganz selbstverständlich und wahrhaftig sich selbst genauso reflektiert, wie er sich das von uns wünschte. Und es fiel ihm kein Zacken aus der Krone dabei – ganz im Gegenteil. Dieses Erlebnis, dass eine Autorität an sich dieselben Massstäbe wie an andere anlegt, hat mich tief und nachhaltig beeindruckt.

Auch innerhalb von Trigon Entwicklungsberatung habe ich immer wieder Fritz’ Bemühen erfahren dürfen, Konflikte und Spannungen konstruktiv und selbstreflexiv zu begegnen. Unsere Organisation ist ja keine einfache. Wir sind heute rund 40 Beraterinnen und Berater, die allesamt auch Miteigentümer*innen unserer Firma – einer Genossenschaft – und Individuen mit Ecken und Kanten und klaren Meinungen sind. So ist es nicht erstaunlich, dass immer mal wieder Meinungsverschiedenheiten und Konflikte auftauchen, mit denen es umzugehen gilt. Dabei fand ich es immer wieder bemerkenswert, wie Fritz in vielen Fällen sehr klar und in deutlichen Worten Stellung bezogen hat und sich durchaus als Teil des Systems und der Konflikte einbrachte, während er es gleichzeitig schaffte, konstruktiv, offen und ausgleichend zu bleiben, sich und uns stets zu Selbstbeobachtung und -kritik anhielt und vor vorschnellen Be- und Abwertungen warnte. Fritz hat sich in meinen Augen nicht davor gescheut, Konflikte einzugehen, war jedoch immer wieder in der Lage, allparteilich zu bleiben oder in diese Haltung zurückzufinden.

Der Mensch im Spannungsfeld von Licht und Schatten

Vor vielen Jahren hat Fritz mir mal in einem persönlichen Gespräch erzählt, wie er im Spannungsfeld zwischen Licht und Schatten mit sich selbst versucht umzugehen. So erläuterte er, dass jeder Mensch ein Alltags-Ich mit allen Stärken, Schwächen, Emotionen und Bedürfnissen habe, während es gleichzeitig ein höheres Selbst, das höchste Potential eines Menschen, aber genauso einen Doppelgänger gebe, der eher die eigenen Schattenseiten verkörpere. Fritz sagte, dass er es als tägliche und lebenslange Herausforderung sehe, sich mit dem eigenen Doppelgänger auseinanderzusetzen und ihn mithilfe des höheren Selbst zu transformieren. Diese Sichtweise wurde für mich zum Ausdruck von Demut und lebenslanger Selbstentwicklung – sie gibt mir heute noch Orientierung und regt mich an, mich selbst in Frage zu stellen und weiterzuentwickeln

Diese Gedanken sollen den Gesprächsausschnitt ergänzen und mit persönlichen Erlebnissen illustrieren, in dem Friedrich Glasl sein Engagement für Frieden erläutert.