Eine zieldienliche KI-Integration kann dazu führen, dass Menschen in ihrer Arbeit aufblühen

KI ist längst mehr als ein Trend – sie verändert Arbeitsprozesse, Rollenbilder und ganze Organisationsmodelle. Doch wie kann sie so integriert werden, dass Menschen nicht ersetzt, sondern gestärkt werden?
Dazu hat Julia Andersch, Trigon Entwicklungsberatung Luzern Dr. Rainer Hoffmann interviewt. Dr. Rainer Hofmann ist Führungskraft und hat langjährige Erfahrung in der Skalierung von KI-Aktivitäten, er lehrt an Hochschulen zur verantwortungsvollen Nutzung von KI und begleitet Unternehmen bei ihrer KI-Transformation. Wir sprechen über Chancen, Risiken und die Bedingungen für eine produktive Zusammenarbeit von Menschen und KI.

Julia Andersch: KI ist seit vielen Monaten ein präsentes Thema in der Gesellschaft. Welche Diskussionen nimmst du derzeit in Organisationen wahr?
Dr. Rainer Hofmann: Einerseits erhoffen sich Unternehmen von KI deutliche Effizienzgewinne – sei es durch Kostenreduktion oder Entlastung der Mitarbeitenden. In den vergangenen Jahren wurden hier bereits beachtliche Erfolge erzielt. Andererseits gibt es Sorgen um den Verlust von Arbeitsplätzen, die Ablehnung oder Widerstände auslösen können. Auch wenn Studien belegen, dass KI in der Regel eher Tätigkeiten verändert, statt sie vollständig zu ersetzen, führt die Unsicherheit zu psychologischem Druck. Dies muss bei der Skalierung von KI ernst genommen werden, denn eine erfolgreiche Transformation gelingt nur gemeinsam mit den Menschen.

Julia Andersch: Mittlerweile ist oft von autonomen KI-Agenten die Rede. Was genau bedeutet das?
Dr. Rainer Hofmann: KI-Agenten unterscheiden sich von bisherigen Systemen durch ihre Fähigkeit, eigenständig Ziele zu verfolgen, mehrstufige Pläne zu entwickeln und aktiv zu handeln. Sie reagieren nicht nur auf Anfragen wie Chatbots, sondern agieren proaktiv und übernehmen zunehmend komplexe Rollen im Arbeitskontext. Das erfordert neue Formen der Zusammenarbeit und Verantwortungsübernahme. In diesem Zusammenhang spricht man bereits von einer „hybriden Belegschaft“.

Julia Andersch: Können KI-Agenten tatsächlich Aufgaben übernehmen, die bisher dem Menschen vorbehalten waren?
Dr. Rainer Hofmann: Momentan erleben wir einen Hype um KI-Agenten, begleitet von Prognosen, die von enormer Entlastung bis hin zur Sorge vor Entmündigung reichen. Unternehmen, die sich ernsthaft mit dieser Technologie befassen wollen, sollten jetzt experimentieren und prüfen, welche Aufgaben KI-Agenten in ihrem spezifischen Kontext zuverlässig übernehmen können. Selbst wenn die Ergebnisse heute noch nicht optimal sind, könnte die Technologie in wenigen Monaten deutlich leistungsfähiger sein. Deshalb würde ich KI-Agenten nicht als bloßen Hype abtun. Schon heute ist KI in einzelnen Aufgaben überlegen – etwa bei der Erkennung gefälschter Hotelbewertungen auf Buchungsplattformen.

Julia Andersch: Dass solche umfassenden Fähigkeiten bei Mitarbeitenden auch Unsicherheiten hervorrufen, ist nachvollziehbar. Sind diese Befürchtungen berechtigt?
Dr. Rainer Hofmann: Neben großen Chancen birgt der Einsatz von KI und KI-Agenten auch Risiken. Forschungsergebnisse zeigen, dass zunehmende Automatisierung zum Verlust handwerklicher und grundlegender Fähigkeiten führen kann – besonders sichtbar aktuell in der Softwareentwicklung, wo KI bereits sehr leistungsfähig ist. Im schlimmsten Fall verliert Arbeit für den Einzelnen an Wert und bietet weniger Gelegenheit, durch Übung Kompetenzen aufzubauen oder zu erhalten. Weitere Studien belegen, dass intensiver KI-Einsatz die intrinsische Motivation und Lernbereitschaft beeinflussen kann. Wenn die richtige Antwort nur einen Prompt entfernt ist, entstehen mittelfristig Wissenslücken und Aufgaben werden ohne Lerneifer erledigt. Fehlt das Gefühl der Selbstwirksamkeit, sinkt auch die Bereitschaft, sich neuen Herausforderungen zu stellen.

Julia Andersch: Bedeutet das, dass Einführung und Skalierung von KI solche Nebeneffekte im Blick behalten und gezielt reduzieren müssen?
Dr. Rainer Hofmann: Ja, unbedingt. Die Debatte über KI ist stark technologie-getrieben. Oft wird die Organisation wie eine Maschine betrachtet: Ein Zahnrad „Mensch“ wird durch ein Zahnrad „KI“ ersetzt, und der Betrieb läuft weiter. Diese Sichtweise ignoriert jedoch die komplexen Wechselwirkungen, die in lebenden Systemen wie Organisationen entstehen.
Im ersten Schritt sollten Unternehmensleitungen transparent kommunizieren: Was ist geplant? Warum ist es geplant? Wie wird der Veränderungsprozess gestaltet? Idealerweise werden Mitarbeitende in die Entwicklung eines gemeinsamen Zielbildes einbezogen. Bewusstseinsbildung und Zukunftsgestaltungsprozesse sind in dieser Phase entscheidend.
Ebenso wichtig ist es, die Wechselwirkungen durch den KI-Einsatz offen zu diskutieren. Dies lässt sich gut anhand der Wesenselemente einer Organisation verdeutlichen – zum Beispiel mit einem Aspekteraster. In einer kleinen Beratung könnte etwa das über Jahre aufgebaute Wissen der Mitarbeitenden in einem großen Sprachmodell gespeichert und für alle abrufbar sein – mit potenziellen Auswirkungen auf Identität und Strategie.
In meinen Augen werden IT-Arbeit und Personalentwicklung künftig immer enger zusammenrücken. Ein Beispiel dafür ist Moderna: Das Unternehmen hat Technologie und HR in der Geschäftsleitung unter der Rolle des „Chief People and Digital Technology Officer“ gebündelt.

Julia Andersch: Wäre es nicht am einfachsten, wenn der Mensch stets die finale Entscheidung trifft und KI nur als Unterstützung dient?
Dr. Rainer Hofmann: Für manche Prozesse ist das tatsächlich die richtige Lösung – vor allem, wenn Entscheidungen weitreichende Konsequenzen haben, wie in der Medizin oder in kritischen Infrastrukturen. Aber das ist nicht überall möglich. Schon heute trifft KI Entscheidungen in Bereichen, in denen so viele Informationen verarbeitet werden, dass der Mensch das Ergebnis nicht mehr vollständig nachvollziehen kann – etwa bei Produktempfehlungen.
Deshalb braucht es eine bewusste Gestaltung der Arbeitsprozesse: Wo legt der Mensch nur die Rahmenbedingungen fest? Wo werden Ergebnisse aktiv freigegeben? Wo wird nur noch überwacht? Dabei muss immer bedacht werden, wie sich die Gestaltung auf die Autonomie der Mitarbeitenden auswirkt.

Julia Andersch: Wie lässt sich eine gute Aufgabenteilung zwischen Mensch und KI gestalten?
Dr. Rainer Hofmann: Eine Metastudie aus dem Jahr 2024 zeigt: KI ist besonders stark bei repetitiven Aufgaben, hohem Arbeitsvolumen und der Analyse großer Datenmengen. Menschen hingegen brillieren dort, wo Kontextverständnis und emotionale Intelligenz gefragt sind.
Ein Beispiel: Die KI kann ein CT-Bild pixelgenau analysieren, mit unzähligen anderen Diagnosen vergleichen und der Ärztin eine Wahrscheinlichkeitsbewertung liefern. Die Ärztin wiederum setzt das Ergebnis in den Gesamtkontext der Patientensituation und kommuniziert die Diagnose empathisch.
So lassen sich die Stärken von Mensch und KI kombinieren – der Mensch wird entlastet und der Arbeitsplatz attraktiver gestaltet. Hinter jedem KI-Einsatz sollte die Maxime stehen, dass Menschen in ihrer Tätigkeit nicht trotz, sondern wegen KI aufblühen können.

Herzlichen Dank für dieses Interview, lieber Dr. Rainer Hofmann.