Ganzheitlichkeit und Entwicklung – Interviewreihe mit Friedrich Glasl Teil 4: Vom Fördern der Richtungskräfte von Mensch und Gesellschaft

Friedrich Glasl hat sich immer klar positioniert, was seine Haltung und seine Werte angeht. Seinen Einsatz für Frieden, soziale Gerechtigkeit und Ökologie hat er jedoch nicht bekehrend und dogmatisch verfolgt, sondern indem er über seine Arbeit als Wissenschaftler und Berater und über sein Vorbild versucht hat, das aus seiner Überzeugung dem Menschen innewohnende Wissen um das Richtige zu wecken und zu stärken. Im vierten und letzten Teil des Interviews anlässlich des 80. Geburtstags von Fritz spreche ich mit ihm darüber, wie angesichts der drohenden Katastrophen und Gefahren in ökologischer und sozialer Hinsicht mehr dafür getan werden könnte, die Richtungskräfte des Menschen anzusprechen und entsprechendes Verhalten einzuladen.

Haltung, Imaginationsfähigkeit und Methodik

Als junger Mann war ich schon früh politisch sehr aktiv – sowohl in zivilgesellschaftlichen Bewegungen als auch parteipolitisch. Ich wollte meine Kraft dafür einsetzen, etwas dazu beizutragen, dass sich die Welt zum Besseren verändert. Als jemand, der in den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts als Jugendlicher noch im Kalten Krieg aufgewachsen ist, die ersten grossen gesellschaftlichen Debatten über die Zerstörung der Umwelt und die Katastrophe von Tschernobyl sehr bewusst erlebt hat, war es gar keine Frage für mich, dass ich mich politisch betätigen musste. So wurde ich denn auch schon in jungen Jahren Co-Geschäftsführer meiner Partei auf kantonaler Ebene und später auch Mitglied der nationalen Geschäftsleitung . Ich habe über mehrere Jahre das politische Geschehen in meinem Kanton und in der Schweiz hautnah miterlebt und auch ein bisschen mitgeprägt. Dabei hatte ich allerdings zunehmend den Eindruck, dass die Art und Weise, wie wir uns für unsere Werte und politischen Ziele einsetzten, oft nicht Ziel-Weg-stimmig war, dass also unsere mentalen Modelle und Handlungsstrategien für Ziele wie Frieden, soziale Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit oft mit Mitteln verfolgt wurden, die in der Qualität ihres Vorgehens nicht dem angestrebten Zielzustand entsprochen haben. Jedenfalls spürte ich nach einigen Jahren in dieser Tätigkeit, dass ich mich zwar weiterhin für meine Werte engagieren will, dass sich aber die Art und Weise das zu tun, würde ändern müssen, wenn ich mir treu bleiben wollte. In der Ausbildung in Organisationsentwicklung bei Fritz habe ich dann vieles gefunden, was mir diese Ziel-Weg-Stimmigkeit besser ermöglichte

Schon im zweiten und dann insbesondere im dritten Teil des Interviews erläutert Fritz, dass Haltung und Gesinnung nicht ausreichen, um etwas in der Welt zu bewirken. Er erzählt, dass Rudolf Steiner davon gesprochen habe, dass es «moralische Intuition» (Haltung), «moralische Phantasie» (eigentlich die Fähigkeit zu imaginieren, was es braucht, um das «Richtige» zu tun) und «moralische Technik» (professionelle Methodik, dies auch umzusetzen) braucht.

Genau das war es, was ich intuitiv in meiner politischen Tätigkeit wahrgenommen hatte: Gesinnung und Haltung mögen stimmen, manchmal auch die Lösungsimaginationen, jedoch fehlte oft die Methodik, um Ziel-Weg-stimmig vorzugehen. In der OE-Werkstatt bei Fritz habe ich dann begonnen zu lernen, wie man mit Individuen und Kollektiven auf systemische Weise an Haltungen, Imaginationsfähigkeiten und diese unterstützende Methoden so arbeiten kann, dass der Weg schon der Qualität des Ziels entspricht.

Das intuitive Wissen um die Entwicklungsrichtung

Das Menschenbild von Fritz ist ein grundsätzlich positives, wenn auch sicherlich kein naives. Er ist überzeugt davon, dass die (meisten) Menschen ein intuitives Wissen darüber haben, was richtig und was falsch ist, was noch lange nicht heisst, dass sie sich immer entsprechend verhalten würden. Um dieses intuitive Wissen – das Gewissen – über das Richtige zu stärken, müssen aus seiner Sicht Systeme im und um den Menschen so abgeholt und gestaltet werden, dass die Wahrscheinlichkeit zunimmt, dass der Mensch demgemäss handelt. Und über die Methoden, die den Menschen in seiner Ganzheit – Körper, Seele, Geist – ansprechen, können auch innovative und neue Lösungen für die anstehenden Herausforderungen emergieren. Dabei greift Fritz auch eine Idee von Matthias Varga von Kibéd auf («systemischer ist systemischer als systemisch»), indem er sagt, dass es viel interessanter und hilfreicher sei, keinen absoluten Zustand anzustreben, sondern nach positiven Unterschieden zu suchen. Dass es also möglich sei, dass die Menschen verstehen, was «besser» sein könnte, ohne sich schon hundertprozentig geeinigt haben zu müssen, was gut sei. Dass es aber jedenfalls eine Richtung braucht und auch gibt, auf die hin gesunde und hilfreiche Entwicklung ausgerichtet ist. Dieses Verständnis, was Entwicklung bedeutet, hat mich in meiner Arbeit und auch für mein Leben insgesamt sehr geprägt. So hat sich meine Haltung hinsichtlich bestimmter Werte nicht grundlegend verändert, sondern vielmehr erweitert. Vor allem aber habe ich meine Imaginationsfähigkeit, mein Gespür für stimmige Lösungswege sehr weiterentwickeln können und auch die Fähigkeit, methodisch ziel-weg-stimmig vorzugehen.

Wenn ich diese Überlegungen auf den Punkt zu bringen versuche, so lautet das entsprechende Motto: Entwicklung hat eine Richtung – gute Entwicklungsbegleitung ist die Förderung von Systemumfeldern in und um Menschen, die die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass das Richtigere getan wird.

Diese Gedanken finden sich aus meiner Sicht in meinem Lieblingszitat von Martin Buber aus seinem Buch «Das dialogische Prinzip» wieder, das ich von Matthias Varga von Kibéd erstmals hörte, und das ich hier sinngemäss wiedergebe:

«So sind da Gut und Böse nicht Gegensätze wie hoch und tief, kurz und lang, leicht und schwer. Gut ist die in Richtung auf die Heimkehr gestreckte Bewegung; böse ist die richtungslos im Raume sich verfangende Möglichkeitskraft des Menschen.»